hitcounter rasum: Orakel nach der Wahl

19 September 2005

Orakel nach der Wahl

Es ist nicht besonders mutig, im Nachhinein zu behaupten, man habe alles so erwartet, wie es gekommen sei. Dennoch kann ich es mir nicht verkneifen: Was mich an der Bundestagswahl am meisten überrascht hat, ist, dass alle Kommentatoren überrascht sind. Hat denn wirklich jemand ernsthaft damit gerechnet, dass in unserem Zeitalter, das derart von audiovisuellen Medien dominiert ist, eine blasse Angela Merkel den Medienkanzler Gerhard Schröder in einer Volkswahl deklassieren könnte?

Als Schweizer kommt man nicht oft in den Genuss, deutsche Politiker live zu erleben. Mir persönlich war das zweimal vergönnt. Das erste Mal bei einem Auftritt von Wolfgang Schäuble, der wegen der Korruptionsaffäre damals gerade in Ungnade gefallen war. Von Schäubles Überzeugungskraft war ich stark beeindruckt. Im Vergleich zur Schweiz schien die deutsche Politik rhetorisch in einer ganz anderen Liga zu spielen. Dies wurde mir von Bekannten bestätigt, die – obwohl politisch rechtsstehend – von Auftritten von Schröder und Fischer begeistert waren. Erstaunlich ist die rhetorische Überlegenheit deutscher Politiker gegenüber ihren Schweizer Kollegen nicht: Als grösseres Land verfügt Deutschland natürlicherweise über ein grosses Reservoir an begnadeten Selbstdarstellern, die zudem in ihrer Muttersprache sprechen können (und sich nicht mit Schweizer Schuldeutsch abmühen müssen). Gleichzeitig sind die personenbezogenen Wahlen wichtiger als in der Schweiz, wo die Politik stark von Volksabstimmungen bestimmt wird.

Der Auftritt der Merkel in Basel im März des vergangenen Jahres hat mir dann aber gezeigt, dass man offensichtlich auch ohne jegliches Charisma in der deutschen Politik weit nach oben kommt. Kaum jemand unter den Zuhörern konnte sich vorstellen, dass vorne die künftige Kanzlerin der drittgrössten Volkswirtschaft der Welt stehen sollte. Dass die Rede auch inhaltlich nicht überzeugte (so vertrat Merkel die These, dass der Umbruch in Osteuropa primär dem Internet zu verdanken sei), möchte ich der Politikerin nicht allzu stark anlasten, dürfte sie den Text doch kaum selbst geschrieben haben. Jedenfalls löste die Rede vor einem Publikum, das ihr durchaus gewogen war, eher Konsternation denn Hoffnung auf einen (damals noch absehbaren) Regierungswechsel aus.

Nichts liegt mir ferner, als Merkel die «Schuld» für das unter den Erwartungen liegende Abschneiden der Unionsparteien anzulasten, wie das nun allenthalben gemacht wird. Schliesslich hat sie sich ja nicht selbst aufgestellt. Verantwortung tragen hingegen diejenigen in der CDU, die sie parteiintern auf den Kandidatenstuhl gehievt haben. Sollten in der ganzen Partei keine geeigneteren Kandidaten vorhanden gewesen sein?

Neben der Verpackung spielt - auch in einer Mediendemokratie - der Inhalt eine wichtige Rolle. Und hier muss festgehalten werden, dass die CDU als Partei versagt hat. Es mag ja schon sein, dass der Bundeshaushalt in einer derartigen Schieflage ist, dass eine Erhöhung der Mehrwertsteuer unausweichlich ist. Für eine bürgerliche Partei sollte aber klar sein, dass das Gleichgewicht primär über eine Senkung der Ausgaben durch Aufgabenverzicht hergestellt werden muss. Leider war diesbezüglich von der CDU nur wenig zu hören – ja, in den letzten Tagen wurde der SPD gar vorgeworfen, ein Sparprogramm verfolgen zu wollen!

Unter diesen Umständen überrascht den Aussenstehenden eigentlich nur, dass die Freien Demokraten, die als einzige (!) Partei Steuererhöhungen ausgeschlossen haben, bloss 10 % der Wähler überzeugen konnten. Nebenbei gesagt dürfte auch hier der Parteivorsitzende ein besseres Ergebnis erschwert haben. Im «seinem» Bonner Wahlkreis erzielte die FDP 13.7 % der Zweitstimmen, Westerwelle selbst dagegen bloss 8.7 % der Erststimmen.

Nicht zu Unrecht sieht sich Schröder als Gewinner der Wahl. Mit einer ernüchternden Bilanz in den Wahlkampf gezogen und durch eine Abspaltung auf dem einen Parteiflügel geschwächt, verlor die SPD nur unwesentlich mehr Sitze als die CDU. Sie erhielt im übrigen mit beinahe 40% weitaus am meisten Zweitstimmen. Die vereinigte Linke (SPD und PDS) hat jedenfalls noch zulegen können.

Wie immer es nun weiter geht: Zu hoffen ist, dass in Deutschland wieder eine handlungsfähige Regierung an die Macht kommt, die anstehende Reformen anzupacken weiss. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass dies auch einer grossen Koalition gelingen könnte. Für einen Schweizer, der seit Geburt unter einer grossen Koalition lebt, ist dies die naheliegende Lösung. Allerdings wäre Deutschland mehr Reformfreude als der Schweiz zu wünschen...