hitcounter rasum: Abstimmungsstrategien

10 Mai 2005

Abstimmungsstrategien

Immer häufiger liegen dem Schweizer Stimmbürger Varianten zur Abstimmung vor, d.h. er kann zugleich über zwei unterschiedliche Vorlagen befinden. Beide Vorlagen werden dabei dem Status Quo gegenübergestellt. Weisen beide Vorlagen Ja-Mehrheiten auf, entscheidet eine Stichfrage darüber, welche der Vorlagen angenommen ist.

Im Vergleich zu einer einfachen Abstimmung, bei der man sich bloss zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden muss (was auch nicht immer einfach ist), komplizieren Variantenabstimmungen die Entscheidsituation für den Stimmbürger. Diese soll nun kurz etwas erhellt werden.

Wer eindeutige Vorlieben in bezug auf den Status Quo hat, für den ist abstimmen immer noch einfach:
  • Wer den Status Quo vorzieht, der stimmt zweimal Nein, in der Stichfrage gibt er dem kleineren Übel der Vorzug.
  • Wer den Status Quo ablehnt, der stimmt dagegen zweimal Ja und gibt in der Stichfrage seiner bevorzugten Variante die Stimme.
Soweit scheint alles klar zu sein. Wie ist aber die Situation für den Stimmbürger, der eine der Vorlagen maximal unterstützen bzw. unbedingt verhindern möchte?
  • Wer eine starke Präferenz für Vorlage A hat, wird sie selbstverständlich mit einem beherzten Ja unterstützen, ebenso wir er die Stichfrage zugunsten von A beantworten. Ist er zwischen Status Quo und Vorlage B unschlüssig, so muss er zudem die betreffende Frage mit «Nein» beantworten – um ein doppeltes Ja und damit einen möglichen Sieg von Vorlage B in der Stichfrage zu erschweren.
  • Genau gleich stimmt, wer in erster Linie Vorlage B vermeiden möchte: Er stimmt bei der betreffenden Frage «Nein» und beantwortet auch die Stichfrage zuungunsten von B. Um der Vorlage B im Falle eines doppelten Ja Konkurrenz zu machen, wird er zudem Vorlage A unterstützen.
Wie soll nun abstimmen, wer den Status Quo vorzieht, gleichzeitig aber Vorlage B ablehnt? Zweifellos verwirft er Vorlage B, ebenso beantwortet er die Stichfrage zugunsten von Vorlage A. Auf den ersten Blick scheint es für ihn naheliegend, A ebenfalls abzulehnen, da er den Status Quo ja vorzieht. Dieser Schluss ist jedoch voreilig. Schauen wir die Entscheidsituation etwas genauer an: Sein Votum für oder gegen Vorlage A ist natürlich nur bei Stimmgleichheit relevant und auch dann nur in folgenden zwei Fällen:
  • Vorlage B erreicht weniger als 50% der Stimmen. In diesem Fall wird der Stimmbürger Vorlage A ablehnen (also ein doppeltes Nein einlegen), um den Status Quo zu erhalten.
  • Vorlage B erreicht mehr als 50% der Stimmen und gleichzeitig fällt die Stichfrage zugunsten von Vorlage A aus. In diesem Fall ist es für den Stimmbürger optimal, Vorlage A die Stimme zu geben. Er verhindert damit die Annahme von Vorlage B.
Das optimale Abstimmungsverhalten hängt offensichtlich von der Einschätzung der politischen Situation ab. Ist der zweite Fall wahrscheinlicher als der erste, so sollte der Stimmbürger mit den beschriebenen Präferenzen für A votieren, obwohl er eigentlich den Status Quo vorzieht!

Der aufmerksame Leser wird vielleicht gemerkt haben, dass der beschriebene zweite Fall aussergewöhnlich ist. Besteht überhaupt die Möglichkeit, dass Vorlage A bloss 50% der Stimmen aufweist, wenn Vorlage B mehr als 50% erhält und die Stichfrage zugunsten von A ausfällt? Die Antwort ist seit dem 18. Jh. bekannt und unter dem Begriff Condorcet-Paradox bekannt: Solche und noch viel verblüffendere Ergebnisse sind im Falle von Abstimmungen mit mehreren Alternativen durchaus möglich. Dass dies nicht nur ein theoretisches Ergebnis ist, hat sich am 28. November 2004 bei einer Abstimmung im Kanton Bern wieder einmal bestätigt: Obwohl der Volksvorschlag zum Personalgesetz mit 50.6% Stimmen abgelehnt wurde, erzielte er in der Stichfrage mehr Stimmen (51.1%) als die Vorlage des Grossrats, die ihrerseits mit 51.6% angenommen wurde.

Der an sich erfreuliche Ausbau der demokratischen Mitbestimmung durch Variantenabstimmungen ist offensichtlich nicht ohne Pferdefüsse. Nicht dass auf solche Abstimmungen grundsätzlich verzichtet werden müsste – aber die strategischen Überlegungen, die der Stimmbürger anstellen muss, um seinen Willen kundzutun, zeigen, dass man wohl bereits an der Grenze des demokratisch Vertretbaren angelangt ist.

Im Sinne der politischen Aufklärung daher noch einmal eine kurze Zusammenfassung der optimalen Strategie in Form eines Kochrezepts:
  1. Unproblematisch ist die Stichfrage: Geben Sie derjenigen Vorlage die Stimme, die Sie sich wünschen (bzw. als das kleinere Übel betrachten).
  2. Haben Sie eine starke Präferenz für den Status Quo, so stimmen Sie zweimal Nein.
  3. Sind Sie klar gegen den Status Quo, so schreiben Sie zweimal Ja.
  4. Finden Sie eine Vorlage besser als den Status Quo und auch besser als die Alternative? Geben Sie ihr die Stimme.
  5. Finden Sie eine Vorlage schlechter als der Status Quo und auch schlechter als die Alternative? Schreiben Sie ein klares Nein hin.
Haben Sie immer noch ein leeres Feld (mehr sollten es nicht sein), dann folgen Sie den nachstehenden Tips:
  1. Stimmen Sie Ja/Nein oder Nein/Ja (d.h. umgekehrt als in der Vorlage, zu der Sie bereits Stellung genommen haben), wenn Sie keine besondere Präferenz für oder gegen die verbleibende Vorlage haben (im Vergleich zum Status Quo).
  2. Ebenfalls Ja/Nein bzw. Nein/Ja stimmen Sie, wenn Sie ziemlich sicher sind, dass die von Ihnen bereits beantwortete Vorlage von der Bevölkerung angenommen wird.
  3. Ansonsten legen Sie – entsprechend Ihren Präferenzen – zweimal Ja bzw. zweimal Nein ein.
Viel Vergnügen bei der nächsten Abstimmung!